EuGH: Türkischer Pass kann EU-Aufenthaltsrecht kosten – DW – 25.04.2024

Türkische Staatsangehörige, die nach ihrer Einbürgerung in Deutschland erneut einen türkischen Pass beantragen, müssen mit dem Verlust der EU-Bürgerschaft rechnen. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden.

Demnach steht der automatische Verlust der Staatsangehörigkeit, den das deutsche Recht für solche Fälle vorsieht, dem EU-Recht nicht entgegen. Wenn damit auch der Verlust der Unionsbürgerschaft einhergehe, seien aber bestimmte Anforderungen zu beachten, so das Gericht.

Konkreter Anlass war der Fall von fünf Menschen in Nordrhein-Westfalen, die zwischen den 1970er- und den 1990er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren. Sie gaben im Zuge ihrer Einbürgerung ihre türkische Staatsangehörigkeit auf, erwarben sie aber kurze Zeit später wieder.

Nach einer Anhörung stellten die zuständigen Stadtverwaltungen in Wuppertal, Krefeld und Duisburg fest, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nicht mehr bestehe. Hierdurch fiel auch die Unionsbürgerschaft weg und somit das Recht der Betroffenen, sich in der EU frei zu bewegen und aufzuhalten. Dagegen klagten sie vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf, das sich mit der Bitte um Auslegung des geltenden Rechts der Europäischen Union an den EuGH in Luxemburg wandte.

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Der Gerichtshof wies darauf hin, dass die einzelnen EU-Mitgliedstaaten dafür zuständig seien, die Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit festzulegen. Wenn jedoch wie im vorliegenden Fall der Verlust der Staatsangehörigkeit auch den Verlust der Unionsbürgerschaft nach sich ziehe, seien bestimmte Anforderungen des Unionsrechts und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einzuhalten.

Das Unionsrecht lasse zu, dass jemand, der freiwillig die Staatsangehörigkeit eines Nicht-EU-Staats wie der Türkei erwerbe, mit der Staatsangehörigkeit des EU-Mitgliedstaats automatisch auch die Unionsbürgerschaft verliere. Die betroffene Person müsse jedoch die Möglichkeit haben, sich an nationale Behörden und Gerichte zu wenden, um prüfen zu lassen, ob der Verlust des Unionsbürgerstatus unverhältnismäßige Folgen für sie habe. Wenn dies der Fall sei, müsse sie ihre EU-Staatsangehörigkeit beibehalten oder rückwirkend wiedererlangen können.

Passverlust möglicherweise vermeidbar?

Laut Luxemburger Gericht hätten die Betroffenen im vorliegenden Fall einen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit allerdings vermeiden können, wenn sie vor Beantragung der türkischen Staatsangehörigkeit die Genehmigung der deutschen Behörden zur Beibehaltung der deutschen Nationalität beantragt und erhalten hätten. Das entsprach der Rechtslage zum fraglichen Zeitpunkt im Jahr 2000.

Der Besitz mehrerer Staatsbürgerschaften ist in Deutschland bislang nur in wenigen Fällen gestattet. Ende Juni tritt allerdings hierzulande ein neues Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft, dass auch diese Möglichkeit vorsieht.

Neues Einbürgerungsgesetz

To view this video please enable JavaScript, and consider upgrading to a web browser that supports HTML5 video

kle/AR (kna, afp)

Flügel des Pariser Wahrzeichens Moulin Rouge abgefallen – DW – 25.04.2024

Die Ursache des Vorfalls in der Nacht zum Donnerstag sei noch vollkommen unklar, sagte der Pariser Polizeipräfekt Laurent Nuñez am Morgen dem Sender TF1. Wie die Pariser Feuerwehr mitteilte, besteht keine weitere Einsturzgefahr an dem Gebäude. Verletzte gab es demnach auch nicht. Auf Bildern ist zu sehen, dass alle vier Flügel vor dem Cabaret-Theater lagen.

Beim Herabstürzen wurden auch drei Buchstaben der Leuchtreklame auf dem Dach des Moulin Rouge abgerissen, sodass jetzt nur noch “lin Rouge” über dem Eingang zu lesen ist. Medienberichten ereignete sich das Unglück zwischen zwei und drei Uhr morgens.

“Als ob der Eiffelturm seine Spitze verliert”

Passanten reagierten irritiert: “Das ist ein Gefühl, als ob der Eiffelturm seine Spitze verloren hätte”, sagte der 58-jährige Daniel, der täglich auf dem Weg zur Arbeit an dem Cabaret vorbeikommt, der Nachrichtenagentur AFP. “Hoffentlich kann es schnell repariert werden.”

Ein Mann befestigt Gurte an den roten Mühlenflügeln, um sie auf einen LKW zu heben (25.04.2024)
Abgestürzte Moulin-Rouge-Flügel auf dem Trottoir vor dem Cabaret: Ursache noch unbekanntBild: Benoit Tessier/REUTERS

Das Gebäude und auch das Dach würden rund um die Uhr von Sicherheitsleuten überwacht, ein Sabotageakt könne ausgeschlossen werden, sagte Moulin-Rouge-Generaldirektor Jean Victor Clerico: “Es handelt sich offensichtlich um ein technisches Problem.”

Die Show geht weiter

Auf das Programm des Vergnügungstempels werde der Vorfall “keinerlei Auswirkungen” haben, betonte Clerico. Die Vorstellungen am Donnerstagabend sollten wie geplant stattfinden: “Wir werden diese Herausforderung meistern.”

Das Moulin Rouge, das im Oktober sein 135-jähriges Bestehen feiert, ist nicht nur das älteste Cabaret der französischen Hauptstadt, es ist auch eines der bekanntesten Wahrzeichen und nach dem ebenfalls 1889 fertiggestellten Eiffelturm eine der meistbesuchten Attraktionen von Paris. Allabendlich werden im Moulin Rouge zwei Vorstellungen gegeben, das für seine Cancan-Tänzerinnen berühmte Cabaret zählt rund 600.000 Zuschauer pro Jahr.

Frankreich Paris | Das "Moulin Rouge" vor dem Unglück (02.10.2019)
Das “Moulin Rouge” vor dem Unglück (Archiv): eine der Hauptattraktionen von ParisBild: Pascal Le Segretain/Getty Images

Ende des 19. Jahrhunderts gab es etwa 30 Windmühlen auf dem Hügel Montmartre, der wegen seines Lichts und der geringen Mietpreise außerhalb des Pariser Zentrums zahlreiche Künstler anzog – unter ihnen der Maler Henri Toulouse-Lautrec. Er zählte zu den regelmäßigen Besuchern des Moulin Rouge und porträtierte dessen Tänzerinnen und Gäste.

Reise in die Vergangenheit

Heute glänzt das Haus noch immer in sündigem Rot, obwohl die Zeiten, in denen es symbolhaft für das frivole Paris stand, längst vorbei sind. Auch das Publikum des Vergnügungstempels auf dem Montmartre hat sich gewandelt. Die Bohème von einst ist Touristen aus aller Welt gewichen, und die halbnackten Tänzerinnen ziehen nicht mehr nur Männer in Scharen an.

Hinter den Kulissen des “Moulin Rouge” in Paris

To view this video please enable JavaScript, and consider upgrading to a web browser that supports HTML5 video

Das Cabaret bedient schon lange nicht mehr das Klischee von Frivolität und Dekadenz. Es ist zu einer Zeitreise in die Vergangenheit geworden, die im Foyer mit den roten Velourstapeten beginnt. Ein Hauch von Belle Époque, der dem Besucher auch in dem 850 Plätze fassenden Vorführungssaal entgegenweht: Lampen und Spiegel im Jugendstil und Litfaß-Säulen mit Toulouse-Lautrec-Bildern.

Das bisher schlimmste Unglück in der Geschichte des Vergnügungslokals war ein durch Bauarbeiten ausgelöster Brand 1915. Danach musste das Moulin Rouge neun Jahre für Renovierungsarbeiten geschlossen bleiben.

mak/AR (afp, dpa)

Arabisches Filmfestival mit Fokus auf Palästinenser – DW – 25.04.2024

“Um in Deutschland über Palästina zu sprechen, sollte man nicht mutig sein müssen”, erklärten die Organisatoren des ALFILM (Arabisches Filmfestival Berlin) bereits bei der Veranstaltung 2023. Ein Jahr später, vor dem Hintergrund des Krieges in Gaza, ist es eine umso größere Herausforderung, ein Festival durchzuführen, das seinen Fokus auf palästinensische Stimmen legt. “Es fühlt sich eher wie eine unlösbare Aufgabe als ein Akt der Courage an,” sagt Festivalchefin Pascale Fakhry. “Ehrlich gesagt fühlt es sich eigentlich wie Selbstmord an.”

Das Team aber nimmt das Risiko auf sich. Das ALFILM-Festival fand zum ersten Mal 2009 statt und hat sich inzwischen, so Fakhry, als die “größte Plattform für arabische Kultur in Deutschland” etabliert. Es findet vom 24. bis zum 30. April 2024 in Berlin statt.

Eine Frau, Pascale Fakhry, steht vor einem bunten Wandbehang mit der Aufschrift "ArabFilmFestival" und lächelt
Pascale Fakhry leitet das ALFILM-FestivalBild: Elizabeth Grenier/DW

“Alle sind extrem nervös”, so Fakhry im DW-Gespräch. Zu dieser angespannten Atmosphäre haben im Vorfeld des Festivals eine Reihe von Vorfällen beigetragen.

So berichtet Fakhry, dass sich die Polizei bei einem der Veranstaltungsorte über das Event erkundigte, bevor das Programm im Kino ausgehängt wurde. Nachdem sie gehört hatten, dass dort ein arabisches Filmfestival stattfinden sollte, unterstellten die Behörden, dass an einer Veranstaltung, von der sie nichts wussten, etwas Verdächtiges sein müsse, so Fakhry.

Als der Kinobetreiber die Polizei darüber aufklärte, dass fünf andere Berliner Veranstaltungsorte ebenfalls Teil des Filmfestivals sind, dass es seit 15 Jahren stattfindet und dass das gesamte Programm im Internet zu finden ist, sei die Polizei “extrem verlegen” gewesen, so die Festivalchefin.

Ein Mann und eine Frau liegen in einer Badewanne.
Gezeigt werden 50 verschiedene Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilme, darunter “Dirty Difficult Dangerous” (Bild), eine Liebesgeschichte zwischen einem äthiopischen Hausmädchen und einem syrischen Flüchtling in BeirutBild: METROPOLISCINEMA

Arabische Filmemacher haben Angst, nach Deutschland zu kommen

Viele internationale Nachrichtenmedien, darunter auch die “New York Times”, haben darüber berichtet, dass der deutsche Kultursektor von Absagen und Verschiebungen von Veranstaltungen betroffen ist, bei denen Teilnehmer Palästinenser unterstützen oder sich antisemitisch im Bezug auf den Krieg zwischen Israel und der militant-islamistische Terrororganisation Hamas geäußert haben.

Antisemitismusvorfälle haben in Deutschland zugenommen, was die Alarmbereitschaft erhöht. In diesem Zusammenhang sind die deutschen Politiker gefordert, zu reagieren und eine strikte Linie gegen Antisemitismus zu ziehen, insbesondere in Anbetracht der historischen Verantwortung Deutschlands infolge der Verbrechen des Holocaust.

Bei den Berliner Internationalen Filmfestspielen im Februar 2024 sorgten einige Dankesreden für Aufruhr unter deutschen Politikern. Einer der Preisträger, der israelische Regisseur und Aktivist Yuval Abraham, sagte, dass er aufgrund der Medienberichterstattung, in der seine Rede als “antisemitisch” bezeichnet worden war, in seinem Heimatland Morddrohungen erhielt.

In einem Bekleidungsgeschäft stehen ein Mann und ein Kind und sprechen mit dem Verkäufer hinter der Ladentheke.
Ein Highlight des Festivals ist der preisgekrönte Film “The Burdened” von Amr Gamal – der erste jemenitische Film, der bei der Berlinale gezeigt wurdeBild: ALFILM

Fakhry weist darauf hin, dass in einem solchen Kontext viele der Gäste des ALFILM-Festivals “Angst haben, nach Deutschland zu kommen … Ich meine, keiner von ihnen will in einen Konflikt geraten und des Antisemitismus beschuldigt werden.”

Umstrittene Begriffe in Deutschland

Die Organisatoren des ALFILM-Festivals haben die internationalen Filmemacherinnen und Filmemacher im Vorfeld des Festivals gebrieft, um von vornherein einige Reizwörter zu vermeiden. “Aber wir haben ihnen auch gesagt, dass dies immer noch ein freier Raum ist und dass wir sie nicht zensieren werden”, so Fakhry.

Umstrittene Begriffe wie “Völkermord”, “Apartheid” und “Siedlerkolonialismus” im Zusammenhang mit israelischer Politik haben in Deutschland einen Aufschrei ausgelöst. Der Ausdruck “From the river to the sea” hat das deutsche Innenministerium unter Strafe gestellt. “Vom Fluss bis ans Meer wird Palästina frei sein” ist eine politische Parole der Palästinenser, die unter dem Verdacht steht, Israel das Existenzrecht abzusprechen.

Das zentrale Thema jedes ALFILM-Festivals ist eine Reaktion auf aktuelle Konflikte, und so lautet das diesjährige Motto: “Here is Elsewhere: Palästina im arabischen Kino und darüber hinaus”. Laut Fakhry haben die Programmgestalter dieses Motto gegenüber ihren Geldgebern, die dem Team ihr Vertrauen schenken, transparent gemacht. So konnten sie sich in gewisser Weise “sicher fühlen”.

Im offenen Kofferraum eines Krankenwagens steht ein Monitor, auf dem ein Mann zu sehen ist. Davor stehen drei Frauen und schauen hin.
In “Das

Steinmeier in der Türkei: Zum Abschluss ein Lächeln – DW – 24.04.2024

Am dritten und letzten Tag der Türkei-Visite von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lag der Fokus ganz klar auf dem Treffen der beiden Präsidenten. Die Journalistinnen und Journalisten warteten mehr als zwei Stunden, bis Steinmeier und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zur Pressekonferenz erschienen. Erstaunlicherweise traten die beiden mit einem Lächeln vor die Kameras. Von einem – durchaus möglichen – Eklat weit und breit keine Spur. Sichtlich entspannt scheinen die Konsultationen vonstatten gegangen zu sein. Was war passiert? Keine Kontroversen Diskussionen zu Gaza? Keine Einordnung der Hamas? Kein Fingerzeig, was die Deutsche Staatsräson angeht?

Erdogan: “Der Krieg im Nahen Osten muss beendet werden”

In seinem Statement wurde Erdogan deutlich: “Der israelische Ministerpräsident verlängert den Krieg in Gaza, um politisch am

Nelkenrevolution in Portugal: Afrika gehört zur Staatsräson – DW – 24.04.2024

Sie wurde von einer linken “Bewegung der Streitkräfte” angeführt und von der großen Bevölkerungsmehrheit Portugals unterstützt: Die Nelkenrevolution beendete nicht nur die fast 50 Jahre währende Diktatur der Machthaber Salazar und Caetano – sie ebnete auch den Weg für das Ende der portugiesischen Kolonialkriege und die Unabhängigkeit von Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Kap Verde und São Tomé und Príncipe. Die fünf lusophonen Länder Afrikas blicken in diesem Jahr mit besonderem Interesse auf Lissabon, wo am 25. April 2024 der 50. Jahrestag der Nelkenrevolution gemeinsam begangen werden soll.

Angola: Nelkenrevolution ermöglichte Verhandlungen

“In Angola erweckt die Nelkenrevolution positive Gefühle”, sagt der Analyst Nkikinamo Tussamba, der selbst 13 Jahre später in der nordangolanischen Provinz Zaire geboren wurde. Für ihn ist klar: “Die portugiesische Revolution hat den Unabhängigkeitsprozess unseres Landes maßgeblich beeinflusst. Dank ihr konnte die Unabhängigkeit unseres Landes bereits anderthalb Jahre später – am 11. November 1975 – proklamiert werden.”

Januar 1975: Portugiesische Regierung unterschreibt mit Vertretern von drei angolanischen Befreiungsbewegungen das Abkommen von Alvor, das der MPLA, der UNITA und der FNLA die Macht in Angola überträgt
Mit dem Abkommen von Alvor vereinbarte Portugal im Januar 1975, die Macht an die Befreiungsbewegungen in Angola zu übertragenBild: casacomum.org/Arquivo Mário Soares

Tatsächlich wurden im Zuge des Regimewechsels in Lissabon direkte Verhandlungen zwischen der portugiesischen Regierung und den Unabhängigkeitsbewegungen in Angola aufgenommen. Im Januar 1975 unterschrieb die Regierung Portugals im südportugiesischen Algarvestädtchen Alvor Unabhängigkeitsabkommen mit den drei Befreiungsorganisationen Angolas MPLA, UNITA und FNLA.

Mosambik: Abkommen mit Portugal kurz nach der Nelkenrevolution

Auch für Mosambik war der 25. April ein Meilenstein, bestätigt der Journalist Fernando Lima: “Die Nelkenrevolution war ausschlaggebend dafür, dass die Befreiungsfront FRELIMO im September 1974 in Lusaka ein Unabhängigkeitsabkommen mit Portugal unterschreiben konnte.” Als in Mosambik geborener Sohn portugiesischer Siedler entschied sich Lima nach der Unabhängigkeit für die mosambikanische Staatsangehörigkeit, also dafür, “als Afrikaner in Afrika” zu bleiben.

Juni 1974: Portugals damaliger Außenminister Mário Soares (links) trifft den Präsidenten Mosambiks und der FRELIMO Samora Machel in der sambischen Hauptstadt Lusaka
Juni 1974: Portugals damaliger Außenminister Mário Soares (links) trifft den Präsidenten Mosambiks und der FRELIMO Samora Machel in der sambischen Hauptstadt LusakaBild: casacomum.org/Arquivo Mário Soares

Anders Fernando Cardoso, Professor für Internationale Beziehungen und Geopolitik an der Autonomen Universität Lissabon: Er wuchs zu Kolonialzeiten ebenfalls in Mosambik auf, siedelte aber kurz nach der Unabhängigkeit mit seinen Eltern nach Lissabon über. Als Erwachsener reiste er dann als Dozent und Leiter von mehreren Forschungsprojekten nach Mosambik, Angola und Kap Verde.

Wachsender Druck auf die Kolonialmacht Portugal

Die Nelkenrevolution habe die Dekolonisierung “ohne Zweifel” beschleunigt, sagt Cardoso. Aber: “Die Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien wäre auch ohne die Nelkenrevolution in Portugal früher oder später eingetreten.” Das portugiesische Kolonialimperium sei in den 1970-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts international als “großer Anachronismus” angesehen worden.

Die internationale Gemeinschaft habe damals enormen diplomatischen Druck auf Portugal, die “erste und letzte Kolonialmacht in Afrika”, ausgeübt: Praktisch die gesamten Vereinten Nationen (UN) hätten Portugal in mehreren Resolutionen aufgefordert, seine Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen, so der Politikwissenschaftler.

Auch der militärische Druck auf Portugal wurde erhöht: Angolas Befreiungsorganisationen MPLA, UNITA und FNLA bekamen immer größere Waffenlieferungen und militärische Ausbildung aus der Sowjetunion und anderen Ländern des Ostblocks, aber auch aus China. Vor allem im ländlichen Raum konnten sie so Druck auf die Kolonialmacht ausüben.

In Mosambik rückten die Kämpfer der Befreiungsbewegung FRELIMO immer weiter vom Norden in Richtung Mitte des Landes vor. Es galt nur als eine Frage der Zeit, bis die portugiesische Kolonialarmee die Kontrolle über weite Gebiete des Landes verlieren würde.

Allein was mit São Tomé und Príncipe und den Kapverdischen Inseln ohne die Nelkenrevolution geschehen wäre, ist nach Meinung von Cardoso nicht ganz klar: “In beiden Archipelen gab es keine bewaffneten Befreiungsbewegungen, wohl aber laute Stimmen, die eine umfassende Autonomie oder gar die vollständige Unabhängigkeit der Inseln forderten.”

Guinea-Bissau: tonangebend für Portugal und die Kolonien

In Guinea-Bissau war der Unabhängigkeitsprozess am weitesten vorangeschritten: In dem westafrikanischen Land hatte die Unabhängigkeitsbewegung unter Amílcar Cabral bereits am 25. September 1973 – also genau sieben Monate vor der Nelkenrevolution – einseitig die Unabhängigkeit von Portugal erklärt. Als die portugiesische Diktatur und damit das Kolonialregime zusammenbrachen, hatten bereits 34 UN-Mitgliedsstaaten Guinea-Bissau als unabhängigen Staat anerkannt. Militärisch hatte die portugiesische Armee längst die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren.

Guinea-Bissau, 1972: Die Befreiungsorganisation PAIGC, unter der Führung von Amílcar Cabral (auf dem Foto im Vordergrund), übernimmt nach und nach die militärische Kontrolle über weite Teile des Landes
Guinea-Bissau, 1972: Die Befreiungsorganisation PAIGC, unter der Führung von Amílcar Cabral (im Vordergrund), übernimmt nach und nach die militärische Kontrolle über weite Teile des LandesBild: casacomum.org/Documentos Amílcar Cabral

“Wir Guineer wollen nicht unbescheiden sein, aber ich wage dennoch zu behaupten, dass wir einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der Nelkenrevolution geleistet haben”, sagt die Juristin und ehemalige Justizministerin Guinea-Bissaus, Carmelita Pires, im DW-Gespräch. “Durch unseren erfolgreichen Befreiungskrieg haben wir die Forderungen der portugiesischen Bevölkerung nach einem Ende der Kolonialzeit und des Krieges und nach Freiheit indirekt unterstützt.” Und sie fügt hinzu: “Gleichzeitig haben wir dazu beigetragen, dass die anderen, von den Portugiesen kolonisierten Länder unserem Beispiel folgten. Wir waren damals echte Vorbilder für unsere Brüderländer, die ebenfalls gegen den Kolonialismus kämpften.”

Beziehungen in der Lusophonie: “Nie besser als jetzt”

In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit galten die Beziehungen zwischen den befreiten Staaten und der ehemaligen Kolonialmacht als schwierig. Ideologisch ging man getrennte Wege: Während sich Portugal der Europäischen Union zuwandte, begaben sich die fünf afrikanischen Staaten auf den Weg zum Sozialismus und errichteten mit Hilfe des Ostblocks marxistische Einparteiensysteme.

Der Präsident von São Tomé und Príncipe, Carlos Vila Nova, wird im März 2023 vom Präsidenten von Kap Verde, José Maria Neves, in Praia empfangen
Die Inselstaaten Kap Verde und São Tomé und Príncipe erlangen 1975 die Unabhängigkeit von Portugal. Foto: Der Präsident von São Tomé und Príncipe, Carlos Vila Nova, im März 2023 mit dem Präsidenten von Kap Verde, José Maria NevesBild: Semedo, Àngelo

In den Anfangszeiten bezichtigten diese neuen Regime Lissabon immer wieder, Vertreter von Rebellenorganisationen, vor allem der mosambikanischen RENAMO und der angolanischen UNITA, die die marxistischen Regime in ihren Ländern bekämpften, bei sich aufzunehmen und diplomatisch zu unterstützen.

Die Missstimmung zwischen Portugal und den Ex-Kolonien habe aber nicht lange angehalten, betont die guineische Juristin Carmelita Pires: “Nach einer gewissen Übergangszeit haben wir Guineer uns erneut Portugal angenähert. Für uns war immer klar, dass unser Befreiungskampf gegen das portugiesische Kolonialsystem gerichtet war – und keinesfalls gegen das portugiesische Volk.” 

Familiäre und kulturelle Bande

Es seien vor allem familiäre Bande, die Menschen aus Guinea-Bissau und aus Portugal verbänden, so Carmelita Pires. Man dürfe nicht vergessen, dass Portugiesen und Bissau-Guineer über Jahrhunderte interagiert und untereinander geheiratet hätten. Sie selbst sei Nachfahrin eines einfachen portugiesischen Siedlers, der eine Frau aus der Fulani-Ethnie geheiratet und mit ihr eine Familie gegründet habe. “Viele Guineer tragen heute noch portugiesische Namen. Das unterscheidet uns von Völkern aus anderen – etwa anglophonen oder frankophonen – Kolonialsystemen.”

Carmelita Pires, Ex-Justizministerin Guinea-Bissaus: "Die kulturellen familiären Bande zwischen Portugal und Guinea-Bissau sind nach wie vor stark"
Carmelita Pires, Ex-Justizministerin Guinea-Bissaus: “Die kulturellen familiären Bande zwischen Portugal und Guinea-Bissau sind nach wie vor stark”Bild: DW/F. Tchumá

Ähnlich sieht es der mosambikanische Schriftsteller Adelino Timóteo, dessen letzter Roman mit dem Titel “Das Jahr des Abschieds von Übersee” zur Zeit der Nelkenrevolution spielt: “Die Portugiesen haben im Vergleich zu anderen Kolonialmächten länger und intensiver mit den Völkern in den Kolonien zusammengelebt und sich ausgetauscht”, sagt er der DW.

“Bei uns in Mosambik gab es schon immer enge Kontakte zwischen afrikanischen, europäischen und arabischen Kulturen, später kamen auch Inder und Chinesen aus den ehemaligen portugiesischen Kolonien in Asien dazu. Sie alle wurden bei uns integriert. Von diesem Erbe der portugiesischen Kolonialzeit sind wir immer noch beeinflusst und sind deshalb heute besser in der Lage, trotz aller Wunden der Vergangenheit, gute Beziehungen zu Portugal und den Portugiesen zu pflegen.”

Gründung der Gemeinschaft portugiesischsprachiger Länder

“Nach der Nelkenrevolution stellten die Leute in Portugal bange Fragen: Was wird aus den Beziehungen Portugals zu Afrika?”, erinnert sich André Thomashausen, Professor für Internationales Recht und Verfassungsrecht an der University of South Africa: “Ich war damals in Portugal und vertrat die dezidierte Meinung, dass das Land eine wichtige und besondere Rolle in Afrika spielen sollte, und dass Portugal das Potential habe, als Tor Afrikas nach Europa zu fungieren.”

CPLP-Gipfeltreffen im August 2023 in São Tomé und Príncipe
CPLP-Gipfeltreffen im August 2023: Die Gemeinschaft der Portugiesisch-sprachigen Länder, CPLP, wurde 1996 in Lissabon gegründetBild: Ricardo Stuckert/PR

Und das sei auch gelungen, so Thomashausen. Alle ehemaligen Kolonien hätten Portugiesisch als Amtssprache übernommen und für viele junge Menschen, aber auch Geschäftsleute aus den ehemaligen Kolonien, sei Portugal heute tatsächlich das wichtigste Eingangstor nach Europa, betont der Verfassungsrechtler mit deutschen Wurzeln. Portugal habe es verstanden, sehr schnell eine enge Kooperation mit den lusophonen Ländern aufzubauen. Die Lusophonie gehöre für Portugal zur “Staatsräson”.

1996 habe man deshalb die CPLP gegründet: die Gemeinschaft der portugiesischsprachigen Länder, die alle neun Staaten der Welt umfasst, in denen Portugiesisch Amtssprache ist. Thomashausen: “Die CPLP ist heute wichtiger und funktioniert besser als die Frankophonie der Franzosen. Die portugiesische Diplomatie hat Hervorragendes geleistet.”

Wirtschaftliche oder zwischenmenschliche Beziehungen?

Die Beziehungen zu allen ehemaligen Kolonien seien auf allen Ebenen gut. Auf Regierungsebene, im kulturellen und im Ausbildungsbereich. Und auch wirtschaftlich seien die lusophonen Länder Afrikas sehr eng mit Portugal verquickt, fügt Thomashausen hinzu.

Fernando Cardoso von der Autonomen Universität Lissabon bestätigt, dass sich Portugals wirtschaftliche Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien gut entwickelt hätten: “Von viel größerer Bedeutung als der Handelsaustausch ist für die Portugiesen aber die historische und emotionale Dimension: In Portugal ist man davon überzeugt, dass eine privilegierte kulturelle und politische Partnerschaft mit den portugiesischsprachigen Ländern unabdingbar ist. Das war auch die Hauptmotivation für der Gründung der CPLP.”

Eine Befestigungsanlage auf der Ilha de Moçambique
Ilha de Moçambique: Die Insel in der Provinz Nampula im Norden Mosambiks ist die ehemalige Hauptstadt des Landes und gab Mosambik auch seinen NamenBild: DW/J.Beck

Portugal habe viel unternommen, um die negativen Seiten der gemeinsamen Geschichte zu verarbeiten und gleichzeitig die positiven Seiten der historischen Verbindungen hervorzuheben, so Cardoso: “Die positiven Aspekte beruhen vor allem auf der gemeinsamen Sprache. Wenn sich São-Tomeser, Kapverder, Angolaner oder Portugiesen im Ausland treffen, dann unterhalten sie sich selbstverständlich auf Portugiesisch und verbrüdern sich.”

Das heiße nicht, dass die jeweiligen Regierungen immer im Einklang seien. Ein Beispiel für konträre Positionen in internationalen Fragen sei die Positionierung bezüglich des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. “Die Trennlinien in der Ukrainefrage verlaufen quer durch die portugiesischsprachigen Länder. Einige der Länder Afrikas haben sich bei den Abstimmungen in der UNO über die Verurteilung des russischen Angriffskrieges der Stimme enthalten, im Gegensatz zu Portugal”, so Cardoso.

Bei allen Auseinandersetzungen, die immer wieder auf Regierungsebene in Erscheinung treten: Die Begegnungen zwischen den Menschen in den verschiedenen lusophonen Ländern nehmen stetig zu. “Die Leute treten gemeinsam auf, nehmen gemeinsam Schallplatten auf, sie organisieren gemeinsame Feste und Konzerte oder Sportveranstaltungen, oder sie geben gemeinsam Bücher über transnationale Themen heraus”, fasst Fernando Cardoso zusammen. “Vor 50 Jahren, in den Wirren der Nelkenrevolution, hätte ich nicht zu träumen gewagt, dass sich die Begegnungen – sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht – so gut entwickeln.”

Portugiesen wandern nach Angola aus

To view this video please enable JavaScript, and consider upgrading to a web browser that supports HTML5 video

Görlach Global: Chinesische Spionage weltweit – DW – 24.04.2024

Symbolbild Spionage: Überwachungskameras sind über der deutschen und der chinesischen Flagge vor der Tongji-Universität in China montiert
Nicht nur gegen Deutschland: Chinas Spionageaktivitäten haben laut einer Studie im letzten Jahrzehnt deutlich zugenommenBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Die Enttarnung der mutmaßlichen chinesischen Agentinnen und Agenten in Deutschland kommt kurz nach einem Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz im Reich der Mitte, in dem auch über die Wahrung von Geschäftsgeheimnissen deutscher Unternehmen gesprochen wurde. Im März noch hatte der Nationale Volkskongress Chinas – eine Versammlung von Parteikadern – neuen Gesetzen zugestimmt, die ausländische Unternehmen zur Offenlegung sensibler Daten zwingen. Diese Zwangsmaßnahmen im Inland passen zur Wirtschaftsspionage im Ausland.

Ein Blick weg von Deutschland verdeutlicht die Reichweite und Art der Spionage durch die Volksrepublik. Laut einer Studie des Thinktanks CSIS mit Sitz in Washington haben die Spionageaktivitäten seit der Machtübernahme durch den chinesischen Herrscher Xi Jinping im Jahr 2012 deutlich zugenommen. Chinesische Spionage dient seitdem primär strategischen politischen Zielen und weniger kommerziellen Motiven. In ihrem aktuellen Bericht sprechen die Autorinnen und Autoren von 224 bekannten chinesischen Spionagedelikten in den USA seit dem Jahr 2001 – von denen 69 Prozent nach Xis Amtsantritt gemeldet worden seien. Xi habe die Geheimdienste von vorne herein als Erfüllungsgehilfen seiner globalen Strategie gesehen und als solche auch aufgewertet und ausgestattet.

Hinter jedem Ausländer steckt ein potenzieller Spion

Innerhalb Chinas agieren die Geheimdienste mittlerweile in aller Öffentlichkeit und senden die Botschaft, dass hinter jedem Ausländer und jeder Ausländerin im Land ein potenzieller Spion des Westens stecke. Journalisten der britischen BBC fassen diesen Wandel so zusammen: “Unter Xi Jinping, dem autoritärsten Führer Chinas seit Jahrzehnten, hat der notorisch geheimnisvolle Spionagedienst des Landes sein öffentliches Profil drastisch erhöht und seinen Aufgabenbereich erweitert.” Die Geheimdienststellen produzieren Propagandafilme, die überall im Land zu sehen sind.

Diese staatlich verordnete Paranoia kommt von der Spitze des Systems: Machthaber Xi hat sich, wie sein Partner und Freund Wladimir Putin auch, in den Jahren der Pandemie zurückgezogen und dabei radikalisiert.

Chinas Unverfrorenheit erfordert Reaktionen

Anders als andere Geheimdienste setzt Peking nicht auf über lange Zeit aufgebaute Kontakte, sondern auf Informanten, die sich für einige Zeit im Ausland aufhalten, als Studierende beispielsweise. So agierten die als Kultureinrichtungen getarnten, an Universitäten eingerichteten Konfuzius-Institute als Spionage-Einheiten für die Kommunistische Partei. Von dort aus wurden junge Chinesinnen und Chinesen unter Druck gesetzt, nicht schlecht über China zu reden. Anderenfalls würde man ihren Familien in der Volksrepublik etwas antun.

Das Vorgehen Pekings ist den Geheimdiensten in den USA und Deutschland nicht erst seit gestern bekannt. Bis vor wenigen Jahren schien es noch so, als würde man sich in der freien Welt mit dieser nicht unüblichen Spionage arrangieren. Erst angesichts von Chinas zunehmender Aggressivität und Unverfrorenheit haben viele Demokratien entschieden, ihre Abhängigkeiten von der Volksrepublik  zu reduzieren und Zugänge zu sensiblen Technologien zu beschränken.

Ein Kanzler ohne geo-politisches Gewicht

Deutschland ist hier, bislang, eine traurige Ausnahme. Wie das Magazin Foreign Policy nach dem Besuch von Olaf Scholz in der Volksrepublik vergangene Woche schrieb, scheinen der “Kanzler und seine Sozialdemokraten, anders als die koalierenden Partner der Grünen und der FDP, ihre China-Politik ganz nach dem Willen deutscher Konzernzentralen auszurichten und nicht nach den Interessen der Bürger des Landes.” Das machte das Magazin unter anderem daran fest, dass in der Regierungsdelegation mit den Ressorts Verkehr und Landwirtschaft explizit solche Ministerien vertreten gewesen seien, die Chinas desolate Menschenrechtssituation nicht ansprechen, sondern eher auf kommerzielle Interessen beider Länder zielen.

Eine politische Botschaft konnte der Bundeskanzler nicht platzieren. Er besitzt kein geo-politisches Gewicht, sondern muss im Auftrag der deutschen Wirtschaft um Zugänge auf den chinesischen Markt bitten. Solange es Xi Jinping gelingt, die Interessen der demokratischen Länder geschickt zu instrumentalisieren, werden die es nicht schaffen, mit konzertierten Aktionen gegen Pekings Spionage vorzugehen.

Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland gestiegen – DW – 24.04.2024

Im vergangenen Jahr hat es 106.000 Fälle von Abtreibungen in Deutschland gegeben und damit 2,2 Prozent mehr als 2022, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Das entspricht 63 Abtreibungen umgerechnet auf 100.000 Frauen. Höher war die Gesamtzahl zuletzt 2012 mit 107.000 Fällen. Zwischen den Jahren 2014 bis 2020 lag sie zwischen rund 99.000 und 101.000 Fällen. “Anhand der vorliegenden Daten lässt sich keine klare Ursache für die weitere Zunahme im Jahr 2023 erkennen”, so das Statistische Bundesamt. Um die Zahlen zu ermitteln, befragte es Kliniken und Arztpraxen, in denen grundsätzlich Abbrüche vorgenommen werden.

Rückgang bei Jüngeren, Anstieg bei Über-30-Jährigen

Im Zehnjahresvergleich hat es deutlich weniger Schwangerschaftsabbrüche in jüngeren Altersgruppen und deutlich mehr Abbrüche bei Frauen ab 30 Jahren gegeben. Nach Angaben des Bundesamtes waren sieben von zehn Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen ließen, zwischen 18 und 34 Jahren alt. 19 Prozent der Frauen waren im Alter von 34 bis 39 Jahren. Die Gruppe der über 40 Jahre alten Frauen machte rund acht Prozent aus, etwa drei Prozent waren jünger als 18 Jahre.

Rund 42 Prozent der Frauen hatten vor dem Schwangerschaftsabbruch noch kein Kind zur Welt gebracht. Die weitaus meisten Abtreibungen wurden nach der sogenannten Beratungsregelung vorgenommen. Wenn eine Beratung stattgefunden hat, bleibt ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen straffrei.

Regierung erwägt Gesetzesänderung

Derzeit sind Abtreibungen in Deutschland grundsätzlich rechtswidrig. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission hatte in der vergangenen Woche eine Reform des Abtreibungsrechts empfohlen. Das Gremium rät, Abtreibungen im frühen Stadium der Schwangerschaft zu erlauben und nicht mehr im Strafrecht zu regulieren.

Die Bundesregierung ließ offen, ob sie noch in der laufenden Legislaturperiode eine Gesetzesänderung in Angriff nimmt. Sie strebt einen breiten gesellschaftlichen und parlamentarischen Konsens an.

aa/kle (dpa, epd, afp, Statistisches Bundesamt)

Wieder deutsche Kooperation mit UN-Hilfswerk im Gazastreifen – DW – 24.04.2024

Die Bundesregierung will ihre Zusammenarbeit mit dem umstrittenen UN-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) im Gazastreifen fortsetzen. Das teilten das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Berlin mit. Hintergrund seien die jüngsten Empfehlungen eines Berichts einer von den Vereinten Nationen eingesetzten Gruppe, die von der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna geleitet wird. 

Hilfswerk von der Hamas unterwandert? 

Die Untersuchung war nach Vorwürfen Israels eingeleitet worden, zwölf Mitarbeiter der UN-Organisation seien in das Massaker der radikalislamischen Palästinenser-Organisation Hamas auf israelischem Grenzgebiet am 7. Oktober verwickelt gewesen. Dabei wurden mehr als 1100 Menschen getötet.

Auch ist UNRWA – United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees – nach israelischer Darstellung als Ganzes von der Hamas unterwandert. Die Hamas wird von Israel, Deutschland, der EU, den USA und anderen Staaten als Terrororganisation gelistet. 

Die frühere französische Außenministerin Catherine Colonna bei der Vorstellung des UN-Untersuchungsberichts am 22. April in New York
Die frühere französische Außenministerin Catherine Colonna bei der Vorstellung des UN-Untersuchungsberichts am 22. April in New York Bild: picture alliance / Kyodo

Aufgrund der Vorwürfe setzten einige der wichtigsten Geldgeber, darunter die USA und Deutschland, ihre Zahlungen vorübergehend aus. In dem Bericht von Colonna, der in dieser Woche in New York vorgestellt wurde, kamen unabhängige Experten jedoch zu dem Schluss, dass es bisher keine Beweise für eine Verwicklung von UNRWA-Mitarbeitenden in terroristische Organisationen gebe.

Das Palästinenser-Hilfswerk habe eine Reihe “robuster” Mechanismen etabliert, um die Wahrung des Neutralitätsgrundsatzes zu gewährleisten. Allerdings gebe es auch Verbesserungsbedarf, wie sich etwa an politischen Stellungnahmen von UNRWA-Personal in sozialen Netzwerken oder an Lehrmaterial der vom Hilfswerk betriebenen Schulen zeige.

“Nicht zu ersetzende Rolle von UNRWA für Gaza”

“Mit der Fortsetzung der akuten Zusammenarbeit stützen wir die

Chinesische und russische Spionage in Deutschland boomt – DW – 24.04.2024

In der Pressestelle des Generalbundesanwalts herrscht dieser Tage Hochbetrieb: “Festnahme wegen mutmaßlicher geheimdienstlicher Agententätigkeit” wird eine Mitteilung vom 23. April überschrieben. Exakt die gleiche Überschrift hat eine Pressemeldung vom Tag zuvor. In beiden Fällen sollen die insgesamt vier Beschuldigten – drei Männer und eine Frau – für China spioniert haben.

Und in einer Nachricht vom 18. April geht es um zwei Männer, die im Auftrag Russlands Anschläge auf militärische Ziele in Deutschland geplant haben sollen. In der Titelzeile heißt es: “Festnahmen u. a. wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit und Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung ‘Volksrepublik Donezk’ (VRD)”.

Geheimdienst-Kontrolleur sorgt sich um Sicherheit

In Politik und Medien führen die Festnahmen zu besorgten Kommentaren. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz ist alarmiert: “Wir müssen endlich verstehen, dass es hier um eine maximal ernste und durchaus reale Bedrohung unserer Sicherheit geht”, betont der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste. “Als wehrhafte Demokratie müssen wir sowohl in der Strafverfolgung, aber auch bei der Aufdeckung der Strukturen und Netzwerke durch alle Sicherheitsbehörden schnell und entschlossen agieren.”

Haldenwang: “Bedrohungssituation wie im Kalten Krieg”

To view this video please enable JavaScript, and consider upgrading to a web browser that supports HTML5 video

Dass genau dies gerade geschieht, macht der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, im DW-Interview deutlich: “Wir haben diese Ermittlungen initiiert. Und nachdem die Beweislage dann eindeutig war, konnten wir diesen Fall an die Polizei und die Staatsanwaltschaften abgeben.” 

Verfassungsschutz skizziert Chinas globale Ziele

Für den Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes ist die aktuelle Entwicklung keine Überraschung. Was seine Behörde China zutraut, ist im 2023 veröffentlichten Verfassungsschutzbericht nachzulesen: “Die globalen Ambitionen Chinas werden mit einem generellen Streben nach immer mehr Macht zur Ausgestaltung des eigenen Gestaltungs- und Führungsanspruchs verfolgt und lassen eine weitere Intensivierung der Spionageaktivitäten wie auch der Ein­flussnahmeaktivitäten durch staatliche Akteure erwarten.”

Über das Gefährdungspotenzial sprach der BfV-Präsident auch auf einem Symposium des Verfassungsschutzes in Berlin, das am Tag der Festnahme von drei mutmaßlichen Spionen stattfand. China habe Zeit, antwortete Haldenwang auf die Frage der DW, welche Strategie das Land bei der Spionage verfolge: “Bis 2049 will man die politische, militärische, wirtschaftliche Macht Nummer eins auf dem Globus sein. Dieses Ziel verfolgt man kontinuierlich – mit legalen Mitteln, aber eben auch mit illegalen Mitteln.”

China: Zur Spionage gezwungen

To view this video please enable JavaScript, and consider upgrading to a web browser that supports HTML5 video

Klassische Spionage-Felder: Universitäten und Unternehmen

Beispielhaft sei der Einsatz von chinesischen Gastwissenschaftlern und Studierenden an deutschen Universitäten. “Diese Personen sind verpflichtet, Informationen an den Staat weiterzugeben”, sagte Haldenwang. Diese Warnung nimmt auch die deutsche Ministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, ernst: Im Umgang mit China dürfe man nicht naiv sein, meint die Freidemokratin (FDP). Notwendig sei eine “noch kritischere Abwägung von Risiko und Nutzen bei der Zusammenarbeit gerade auch in Wissenschaft und Hochschulen”. 

So sieht es der Verfassungsschutz auch beim Blick auf die Wirtschaft. Bei jeden Joint Venture, bei jedem Direktinvestment kämen auch Manager und anderes Personal aus China nach Deutschland, sagte Präsident Haldenwang, der damit ein potenzielles Einfallstor für Spionage benannte: “Geschäftsgeheimnisse können auch nach China gelangen.”

Spion im Vorzimmer eines AfD-Politikers?

In dieses Szenario könnte der zuletzt festgenommene mutmaßliche Agent passen. Besonders pikant: Er ist ein enger Mitarbeiter von Maximilian Krah, dem Spitzenkandidaten der Alternative für Deutschland (AfD) bei der Europawahl im Juni 2024.

Der festgenommene Krah-Mitarbeiter ist mittlerweile in Untersuchungshaft. Ein Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof habe den Haftbefehl in der Nacht zum Mittwoch in Vollzug gesetzt, Der Vorwurf laute auf Agententätigkeit für einen ausländischen Geheimdienst in einem besonders schweren Fall.

Spion bei der Bundeswehr enttarnt

To view this video please enable JavaScript, and consider upgrading to a web browser that supports HTML5 video

Der vom Verfassungsschutz bundesweit als rechtsextremer Verdachtsfall beobachteten AfD werden auch immer wieder enge Kontakte nach Russland nachgesagt. Die aus Moskau gesteuerten Spionage-Aktivitäten konzentrieren sich jedoch im Unterschied zu China nach Geheimdienst-Erkenntnissen oft auf kurzfristige Ziele. Diese Einschätzung gilt aus Haldenwangs Sicht mehr denn je seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine: “Angesichts eines heißen Krieges mit enormer Gewaltanwendung durch Russland, wäre es fahrlässig, nicht von der Fähigkeit und dem Willen seiner Nachrichtendienste zu komplexen Operationen in Europa auszugehen.”

Auf der Suche nach pro-russischen Frauen und Männern

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz rechnet damit, dass russische Spionage weiter zunehmen wird. Dafür müsse auch neues Personal rekrutiert werden. Kurz nach Kriegsbeginn hatte Deutschland bereits rund 40 mutmaßliche Agenten ausgewiesen, die an der Russischen Botschaft in Berlin akkreditiert waren. Das sei inzwischen aber kompensiert worden, heißt es.

Russlands Präsident Wladimir Putin nimmt für seine Ziele auch in Deutschland

Spionagefall: “Volksrepublik Donezk” eine Terrorvereinigung? – DW – 23.04.2024

Im Zuge eines Spionagevorfalls , der im Zusammenhang mit Russland steht, hat die Polizei der Stadt Bayreuth in Bayern zwei Männer festgenommen. Dieter S. und sein Helfer Alexander J. stehen im Verdacht, im Auftrag der russischen Geheimdienste Sabotageakte in Deutschland vorbereitet zu haben. Den deutschen Staatsbürgern russischer Herkunft wird auch vorgeworfen, Spionage gegen Militärstützpunkte der USA betrieben und Attacken auf militärisch genutzte Transportwege geplant zu haben.

Dieter S. sei “Mitglied der ausländischen Terrorvereinigung ‘Volksrepublik Donezk'” gewesen, meldet die deutsche Generalbundesanwaltschaft . Damit stuft sie die selbsternannte Volksrepublik faktisch als terroristische Organisation ein: Es handele sich um eine “pro-russische Vereinigung, die ab Frühjahr 2014 die Kontrolle über den ukrainischen Verwaltungsbezirk Donezk mit dem Ziel der Loslösung von der Ukraine beanspruchte und sich intensive Auseinandersetzungen mit den ukrainischen Streitkräften lieferte”. Auch habe die Vereinigung immer wieder Gewalt gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.

Das Gebäude der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe mit Fahnen davor
Das Gebäude der Generalbundesanwaltschaft in KarlsruheBild: imago images

Nach derzeitigem Ermittlungsstand hatte Dieter S. seit Oktober 2023 Kontakt zu einer Person, die an einen russischen Geheimdienst angebunden ist. Als Mitglied einer ausländischen terroristischen Vereinigung soll er zudem eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet haben. Die Generalbundesanwaltschaft fügt hinzu: “Nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt besteht der dringende Verdacht, dass Dieter S. zwischen Dezember 2014 und September 2016 in der Ostukraine als Kämpfer einer bewaffneten Einheit der ‘Volksrepublik Donezk’ tätig war und in diesem Zusammenhang über eine Schusswaffe verfügte.”

Im Zuge der prowestlichen oppositionellen Proteste und des Machtwechsels in Kiew im Frühjahr 2014 wurden im Osten der Ukraine die sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” ausgerufen. Im Februar 2022, nur drei Tage vor Russlands großangelegtem Überfall auf die Ukraine, erkannte Staatschef Wladimir Putin die beiden Separatisten-Gebiete schließlich als unabhängig an. Im September desselben Jahres annektierte Russland die ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk.

Wie man auf die Liste ausländischer Terrororganisationen kommt

“Wir sind davon überzeugt, dass es ständig russische Spionageaktivitäten gegen deutsche Interessen gibt”, sagte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang im DW-Interview. “Deutschland ist ein wichtiger Player in vielen Politikbereichen, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht.” 

Bislang hatten die deutschen Behörden die “Volksrepublik Donezk” nicht als terroristische Vereinigung eingestuft, was also hat sich geändert? In Deutschland gebe es zwei Möglichkeiten, eine bestimmte Struktur auf die Terroristenliste zu setzen: auf behördlichem und auf strafrechtlichem Wege, erläutert der Jurist Dr. Matthias Hartwig von der Heidelberger Universität im Gespräch mit der DW. Er führt das Beispiel der radikal-islamistischen Bewegung Hamas an, die auf der Ebene der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft ist, aber auch durch Gerichtsurteile als solche eingeordnet wird.

Das bedeute noch nicht, so Hartwig, dass die “Volksrepublik Donezk” jetzt auch vom deutschen Staat als terroristisch angesehen werde. Aber aus Sicht der Generalbundesanwaltschaft sei sie es. Es bleibe jedoch unklar, ob damit die gesamte von den separatistischen und russischen Behörden geschaffene quasi-staatliche Struktur gemeint sei – oder nur ihr paramilitärischer Teil. Hartwig vermutet, die Bundesanwaltschaft betrachte alle Strukturen dort als illegal. Und das aus guten Gründen, weil die ukrainische Seite zum Schluss gekommen sei, dass diese Strukturen “Mord und Tod betreiben”. Es sei nun Sache der Gerichte zu entscheiden, ob diese Strukturen als terroristisch anzusehen seien, so der Jurist.

Frontlinie in Awdijiwka im November 2019: Ein ukrainischer Soldat sichert die Frontlinie an der zerstörten Kohlenmine Butowka
Schon lange vor dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde in der Donezk-Region gekämpft (Archivbild von 2019)Bild: Vitali Komar/AP Photo/picture alliance

Auch die ARD bewertet den Schritt der Generalbundesanwaltschaft als ein “Novum”. “Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat eine entsprechende Verfolgungsermächtigung erteilt. Ein Schritt mit hoher Symbolkraft, der diplomatische Folgen haben dürfte”, schreiben die ARD-Terrorismusexperten Michael Götschenberg und Holger Schmidt zur Inhaftierung von Dieter S. und Alexander J.

Als einzige diplomatische Folge bislang ist der russische Botschafter ins Auswärtige Amt einbestellt worden. Doch Völkerrechtler Hartwig schließt nicht aus, dass der Spionageskandal die Spannungen zwischen Deutschland und Russland weiter verschärfen könnte: “Deutschland ist völkerrechtlich nicht gebunden und ist frei zu sagen: das ist ein annektiertes Gebiet und die Strukturen, die dort Macht ausüben, stufen wir als terroristisch ein. Deutschland verletzt dadurch nicht das internationale Recht.”

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk