Vincent Keymer ist mit 17 Jahren der beste Schachspieler in Deutschland. Er gilt weltweit als eines der größten Talente. Im DW-Interview spricht er über seine Leistungssteigerung und seine Chancen, WM-Kandidat zu werden.
DW: Sie sind Vize-Europameister und im Frühjahr 2022 haben Sie sogar die Chance, sich für das Kandidatenturnier zu qualifizieren, bei dem der nächste Gegner für Weltmeister Magnus Carlsen ermittelt wird. Sehen Sie sich schon als ein Weltklasse-Spieler?
Vincent Keymer: Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich schon Weltspitze bin. Das kann man wirklich noch nicht sagen. Es gibt viele starke Spieler, die es alle noch nicht geschafft haben, in die Weltspitze vorzudringen. Dann weiß man, dass das noch extrem viel Arbeit ist und noch dauern wird – normalerweise zumindest. Klar, ich bin jetzt näher dran. Aber trotzdem muss man ja feststellen, dass es nur wenige Spieler überhaupt irgendwann einmal schaffen, in ein Kandidatenturnier für die Weltmeisterschaft zu kommen.
Vor zwei Jahren, mit 14 Jahren, haben Sie zum ersten Mal gegen Weltmeister Magnus Carlsen gespielt – und haben knapp verloren. Wie war es, gegen Carlsen anzutreten?
Ich war ganz schön nervös. Gegen den Weltmeister zu spielen, mitten in einer riesigen Halle, das ist natürlich etwas Besonderes. Ich habe die ersten Züge auch ein bisschen zu langsam gespielt, unter anderem, weil ich so aufgeregt war. Dann habe ich mich irgendwie mehr auf die Partie fokussiert und das andere ausgeblendet. Carlsen wollte die Partie gegen mich natürlich gewinnen. Dafür musste er auch ein Risiko eingehen und hoffen, dass ich genug Fehler mache. Nach der Partie haben wir dann noch kurz gesprochen. Er hat mir gesagt, dass ich gegen Ende sogar noch eine Möglichkeit verpasst hatte, Remis zu spielen.
Ab März 2020 war auch der Schachsport fast komplett im Lockdown. Wie haben Sie die Zeit erlebt?
Ich habe sehr gerne und viel online gespielt. Dennoch finde ich, dass das Spiel mit langer Bedenkzeit das ist, was Schach ausmacht. Deshalb habe ich mich auch gefreut, als jetzt die Live-Turniere wieder angefangen haben. Denn ich hatte ja eine extrem lange Trainingszeit, in der ich nicht richtig am Brett gespielt habe. Ich wusste natürlich nicht, wie sich das auswirkt. Nachdem die Turniere in den letzten Monaten so gut gelaufen sind, weiß ich besser, wo ich stehe.
Vincent Keymer: Zum ersten Mal in der Schach-Nationalmannschaft bei der Team-EM 2021
In der zweiten Hälfte des Jahres 2021 haben Sie ein gutes Turnier nach dem anderen gespielt. Sie sind Vize-Europameister geworden und haben nach dem fünften Platz beim “Grand Swiss” in Riga sogar noch die Chance, in den Kreis der WM-Kandidaten zu kommen.
Wie kam es zu dieser Leistungssteigerung?
Das kann ich gar nicht sagen. Es hat mir auf jeden Fall gut getan, die vielen Turniere am Stück zu spielen. Ich war ziemlich tief in der Materie drin und konnte mich intensiv damit beschäftigen. Solange man sich noch in der Entwicklung befindet wie ich, ist das ein allgemeines Nach-vorne-gehen in verschiedenen Bereichen. Ich muss noch viel lernen und Erfahrungen sammeln in verschiedenen Stellungstypen. Das passiert aber alles gleichzeitig.
Profi-Schachspieler stecken viel Zeit in die Vorbereitung der Eröffnungszüge. Wie wichtig ist das für Sie?
Für mich ist es gegen starke Gegner wichtig, dass ich eine gute Vorbereitung und eine schöne, stabile Stellung habe und nicht direkt ins Hintertreffen gerate. Denn wenn man starken Spielern die Chance gibt, dann werden die noch viel stärker. Dann haben die viel mehr Möglichkeiten, ihr Potenzial auszuspielen.
Im Schach gibt es gerade bei starken Spielern oft eine Punkteteilung. Auch die Weltmeisterschaft 2021 zwischen Magnus Carlsen und JanNepomniachtchi startete mit fünf Remis-Partien in Folge. Ist das langweilig?
Nein. Was man von außen immer leicht unterschätzt, ist, wie unheimlich viel Arbeit in diesen WM-Partien steckt. Hinter jedem Spieler steht ein großes Team, das dazu beiträgt, dass man überhaupt so gut spielt. Manche Partien ,verflachen’ dann relativ schnell, weil beide Spieler eine so gute Vorbereitung haben und am Anfang so perfekte Züge machen.
In der Schach-Szene ist immer wieder davon die Rede, dass das Schach reformiert werden müsse – und bei einer WM auch Schnellschach gespielt werden solle. Wie sehen Sie das?
Es kann sein, dass der pure Entertainment-Faktor höher wäre. Aber es sinkt die Qualität der Partien und es verändert sich auch die Aussagekraft des Matches. So haben im klassischen Schach beide Spieler die Möglichkeit, sich sehr zu vertiefen und sehr gut zu spielen. Es ist nicht so, dass man – wie in einer Schnellpartie – etwas übersieht und dann ist es direkt verloren. Ich fände es interessant, eine schnelle WM zu spielen, aber es ist dann fast schon ein anderes Spiel – es ist nicht mehr die gleiche Weltmeisterschaft.
Vincent Keymer (Jahrgang 2004) ist der bisher jüngste deutsche Schach-Großmeister und seit November 2021 die Nummer eins in der deutschen Rangliste. 2021 wurde er Vize-Europameister. Der angehende Abiturient lebt in Saulheim bei Mainz.